Third party funded individual grant
Start date : 01.09.2019
End date : 31.08.2023
Das Projekt untersucht die Bedeutung von Authentizität bei der Schaffung und Verbreitung historischer Erinnerungen im sinophonen Raum. Im Fokus steht die durch die Pluralisierung der historiographischen Akteure in den letzten drei Dekaden tiefgreifend veränderte Bedeutung von Vergangenheit in China, Hongkong und Taiwan. Besonders in der Kultur- und Kreativwirtschaft sind durch digitale Technologien, populäre Medien und die Kommerzialisierung kulturelle Produkte geschaffen worden, die die Vergangenheit als Identitätsressource nutzen und neu imaginieren. In Ergänzung zur top-down-Perspektive in der bestehenden Forschung, die sich seit langem mit staatlich gelenkter Vergangenheitspolitik und nationalen Identitätsdiskursen befasst hat, widmet sich dieses Projekt drei Fallstudien, in denen populäre Modi der Repräsentation und Rekonstruktion von Vergangenheit betrachtet werden: 1. historische Stätten und living history im Tourismus; 2. nichtstaatlich organisierte Ausstellungen und Museen zur Geschichte des 20. Jahrhunderts; und 3. kulinarische Kultur. Dies sind derzeit stark umstrittene Räume der Aushandlung von historischer Erinnerung, wo Konsumenten eine „authentische“ Vergangenheit durch persönliche und personalisierte Erfahrungen nachvollziehen, historische Gebrauchsgegenstände wieder entdecken oder die Vergangenheit durch Nostalgie nacherleben. In allen Fällen ist die abstrakte, an Meistererzählungen gebundene Vergangenheit zu einem Ereignis oder einer Ware geworden, die sich über Authentizität statt historische Wahrheit legitimiert und damit nicht mehr ausschließlich einer politischen Logik zu folgen scheint. Die Erfindung und Anfechtung historischer Authentizität ist damit zu einem hochkomplexen Prozess geworden, in dem Identitätskonzepte zwischen kolonialer und/oder revolutionärer Nostalgie und unvermeidlicher Globalisierung oszillieren.
Die Kernfragen des Projekts lauten: Wie helfen Kultur- und Kreativindustrien dem Konsumenten, durch ein Re-enactment von Vergangenheit und die Auseinandersetzung mit vielschichtigen Zeitlichkeiten und Nostalgie historische Authentizität zu schaffen? Wie trägt der oft proklamierte Rückzug von politischer Ideologie und staatlicher Autorität zur wachsenden Polyphonie in der Kultur- und Kreativwirtschaft bei, und welche gesellschaftlichen und politischen Implikationen besitzt selbst behauptete Authentizität in den betrachteten Gesellschaften? Das Projekt zielt darauf ab, die Rollen des Staates, der Gesellschaft und der Kulturindustrie in der Vergangenheitspolitik nuancierter darzustellen, die Beziehung zwischen populärer und offizieller Sicht auf die Geschichte zu überdenken und schließlich einen möglichen Beitrag der jüngsten theoretischen Neuerungen in der Forschung zur öffentlichen Geschichte (public history) für ein neues Verständnis von historischer Erinnerung im sinophonen Raum zu eruieren.