Schutztechnische Verfahren zur Erhöhung der Systemsicherheit beim Netzwiederaufbau

Jaworski M (2023)


Publication Language: German

Publication Type: Thesis

Publication year: 2023

Publisher: FAU University Press

City/Town: Erlangen-Nürnberg

ISBN: 978-3-96147-635-0

DOI: 10.25593/978-3-96147-636-7

Abstract

Die elektrische Energieversorgung gilt als kritische Infrastruktur zur Aufrechterhaltung
der arbeitsteilig geprägten Prozesse innerhalb unserer modernen Gesellschaft.
Das auf sie zurückzuführende Abhängigkeitsgeflecht durchdringt dabei nahezu alle
neben ihr existierenden Infrastruktursektoren und begründet dadurch die fundamentale
Bedeutung ihrer Integrität. Der als Blackout bezeichnete Zusammenbruch
eines elektrischen Energieversorgungssystems entwickelt in Abhängigkeit seiner Einwirkungsdauer
und topologischen Dimension beträchtliche negative Auswirkungen
auf die wirtschaftliche und humanitäre Konstitution einer davon betroffenen Gesellschaft.
Schlussendlich spiegelt der Netzwiederaufbau die einzige Lösung jenes Problems
wider.
Jedoch handelt es sich hierbei um ein komplexes Verfahren, währenddessen sich
das System gegenüber seinem Normalbetrieb in einem Zustand deutlich erhöhter
Vulnerabilität befindet. Die Wissensbasis um selbiges Verfahren existiert hierbei vornehmlich
in Form von Netzwiederaufbauplänen und Strategiekonzepten, welche
sich aus begründetem Anlass dem Zugriff der Öffentlichkeit entziehen. Jener eingeschränkte
Wissenszugriff von Seiten der Allgemeinheit erschwert den im Rahmen
des wissenschaftlichen Diskurses erarbeiteten Fortschritt innerhalb dieses Themengebiets.
Die Entwicklung und der Einsatz eines echtzeitfähigen, modularen Netzwiederaufbausimulators
repräsentieren dabei methodische Initiativen um die Forschungsarbeit
rund um jenes Thema dennoch zu vertiefen. Anhand des sich auf
diesem Wege eröffnenden Untersuchungsrahmens soll der Fokus primär auf die Erarbeitung
von Anwendungserfahrung und einer gesteigerten Transparenz hinsichtlich
der strategischen Umsetzung von Netzwiederaufbauprozessen gerichtet werden.
Die wissenschaftliche Historie belegt allerdings, dass dem tieferen Einblick in einen
Sachverhalt neben einigen Antworten jedoch vornehmlich neue Fragestellungen entspringen.
Vor diesem Hintergrund sollen vier Problemschwerpunkte durch vier entwickelte
Lösungsansätze adressiert werden.
Der erste Problemschwerpunkt betrifft den Aspekt der Schutztechnik in Form
einer übergeordneten Betrachtungsperspektive. Da Schutzkonzepte in der Regel auf
ein Referenzbetriebsszenario zugeschnitten sind, welches meist dem planmäßigen
Normalbetrieb gleicht, ist eine Analyse des Schutzsystemverhaltens im Angesicht des Netzwiederaufbaus essenziell. Ein im Rahmen dieser Arbeit entwickeltes Protection
Security Assessment System wird eingesetzt um die Funktionsweise der installierten
Schutztechnik während sämtlicher Etappen der Systemwiederherstellung simulationsbasiert
zu prüfen und die Schutzreaktion einer Bewertung zu unterziehen. Dies
eröffnet die Möglichkeit einer zielgerichteten Behebung identifizierter Schwachstellen.
Der zweite Problemschwerpunkt konzentriert sich auf den Mechanismus der überlastbedingten
Ausfallkaskade in Übertragungskorridoren, die sich aus einer Reihe paralleler
Leitungselemente zusammensetzen. Jener gilt als häufig anzutreffendes Element
in Zusammenbruchszenarien elektrischer Energiesysteme und entfaltet im Hinblick
auf den Netzwiederaufbau großes Potential für einen Rückfall in den Blackout-
Zustand. Diesem Problem wird durch die Einführung des Proaktiven Überlastschutzes
begegnet, welcher die Längsreaktanz einzelner Leitungen des Korridors auf Basis
von TCSR-Elementen stufenlos erhöhen kann. Anstatt unzulässig hoch ausgelastete
Leitungen zur Vermeidung ihrer thermisch bedingten Zerstörung abzuschalten, sorgt
ihre Längsreaktanzsteigerung nach dem Prinzip der Kirchhoff’schen Gesetzte dafür,
dass eine Stromverdrängung auf benachbarte Leitungselemente innerhalb des Korridors
stattfindet. Das geschützte Leitungselement kann seine Übertragungsfunktion
somit aufrechterhalten, während dessen Auslastung auf einen definierten Maximalwert
eingeregelt und auf diesem Wege der kaskadierende Kollaps des Übertragungskorridors
abgewandt wird. Darüber hinaus eröffnet die Möglichkeit der raschen und
stufenlosen Längsreaktanzregelung innerhalb des Netzes Potential zur Schwingungsdämpfung
elektromechanischer Ausgleichsvorgänge, wodurch der Proaktive Überlastschutz
zusätzlich zu seiner namensgebenden Aufgabe die Zusatzfunktion eines
maschinenfernen Power System Stabilizers bereitstellt.
Gegenüber ihrem elektromechanischen Äquivalent, ruft die Vielzahl an Schalthandlungen
während des Netzwiederaufbaus zudem elektromagnetische Ausgleichsvorgänge
hervor, worin sich die Fokussierung auf den dritten Problemschwerpunkt
begründet. Hinsichtlich der Zuschaltung von Transformatoren besteht dabei die
Möglichkeit einer magnetischen Sättigung ihres Eisenkerns, was in der Konsequenz
hohe Stromflüsse innerhalb des Netzes hervorruft und folglich eine Gefahr der unerwünschten
Schutzauslösung darstellt. Weitet sich der Einfluss dieses sogenannten
Transformer-Inrush-Ereignisses auf bereits im Betrieb befindliche Transformatoren
aus, indem auch deren Eisenkerne Sättigungserscheinungen zeigen, so erreicht das
Ereignis die Dimension eines Sympathetic Transformer Inrush. Jener wird von gegenwärtig
eingesetzten Detektionsalgorithmen, welche dem Zweck einer Schutzblockierung
in diesem Kontext dienen, meist nur unzureichend erkannt. Daher nimmt
das in dieser Arbeit entwickelte Erkennungsverfahren eine Analyse der gemessenen
Leiterströme anhand charakteristischer Merkmale zur Identifikation eines Sympathetic Transformer Inrush vor um auch im Hinblick auf dieses Ereignisses eine zuverlässige
Schutzblockierung zu gewährleisten. Jene Merkmale sind die Abweichung zur
idealen Sinusform, die Anzahl der Wendepunkte des Stromsignals und seine flachen
Plateaus, während die Eisenkerne temporär in den linearen Abschnitt ihrer Magnetisierungscharakteristik
eintreten.
Angesichts des vierten Problemschwerpunktes konzentriert sich der Fokus auf die
Rolle von Kraftwerken. Anhand ihrer Synchronmaschinen fungieren sie als netzbildendes
Element und begründen durch die Einprägung eines dreiphasigen Referenzspannungssystems
einen fundamentalen Bestandteil des Netzwiederaufbaus. Neben
der Wasserkraftnutzung, basieren derart aufgebaute Kraftwerke nahezu ausschließlich
auf dem Einsatz von Kernenergie oder CO2 emittierender Verbrennungsprozesse
fossiler Energieträger. Mit einer Abkehr von derartigen Energiewandlungsprinzipien
schwindet jene für den Netzwiederaufbau essenzielle Ressource der Bereitstellung
von Spannungsreferenzsystemen. Demgegenüber könnten netzbildend
geregelte selbstgeführte Umrichter von HGÜ-Kopfstationen oder großen DEAParks
mit Speichereinheiten diese Lücke füllen und auch bereits während des aktuell
stattfindenden Transformationsprozesses im elektrischen Energieversorgungsnetz
das Handlungsrepertoire des Netzwiederaufbaus erhöhen. Das Prinzip der Orbitalraumregelung
ermöglicht VSC ein netzbildendes Spannungsquellenverhalten unter
Wahrung ihres strombezogenen Eigenschutzes. Darüber hinaus liegt der Fokus des
Regelungsverfahrens auf der Bereitstellung eines schwebenden Ankerpunktes im ACNetz,
gegenüber welchem die Polradwinkelstabilität einzelner oder sich zu einer kohärenten
Gruppe zusammenschließender Synchronmaschinen nicht verloren gehen
kann. Die Orbitalraumregelung veranlasst den VSC zu einem Verhalten, welches der
mit positivem oder negativen Gradienten versehenen Frequenzexkursion von Synchronmaschinen
im Zuge eines elektromechanischen Ausgleichsvorgangs nach dem
Vorbild eines bewegungshemmenden Ankers entgegenwirkt und auf diesem Wege
neben der bereits fixierten Polradwinkelstabilität auch die Frequenzstabilität des Systems
optimiert.

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How to cite

APA:

Jaworski, M. (2023). Schutztechnische Verfahren zur Erhöhung der Systemsicherheit beim Netzwiederaufbau (Dissertation).

MLA:

Jaworski, Michael. Schutztechnische Verfahren zur Erhöhung der Systemsicherheit beim Netzwiederaufbau. Dissertation, Erlangen-Nürnberg: FAU University Press, 2023.

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