Biller M (2021)
Publication Language: German
Publication Type: Thesis
Publication year: 2021
Publisher: FAU University Press
City/Town: Erlangen-Nürnberg
ISBN: 978-3-96147-431-8
DOI: 10.25593/978-3-96147-432-5
In den letzten Jahren und Jahrzehnten ist in Deutschland aufgrund von Energiewende
und Atomausstieg ein stetiger Rückgang an Großkraftwerkskapazitäten
zu verzeichnen. Hinzu kommt zukünftig der geplante Kohleausstieg.
Demgegenüber steht ein massiver Zubau an dezentralen Energieumwandlungsanlagen
(DEA), hauptsächlich in Form von Windkraft‐ und Photovoltaikanlagen.
Der weitaus größte Anteil des Zubaus an solchen Anlagen betrifft die
Mittel‐ und Niederspannungsebene. Die meisten Netze auf diesen Spannungsebenen
sind als reine Lastnetze unter der Prämisse unidirektionalen
Lastflusses geplant worden. Sie sind daher nicht uneingeschränkt für
einen Betrieb mit vielen wetter‐, tageszeit‐ oder jahreszeitabhängigen DEA
ausgerüstet. Die Folge können beispielsweise Überlastungen von Leitungen
und/oder unzulässige Spannungen sein.
Eine Möglichkeit, diese Probleme abzumildern oder zu verhindern besteht
in einer abgeänderten Betriebsweise der Netze. Vor allem Mittelspannungsnetze
werden häufig in offener Ringnetzweise betrieben. Durch dauerhafte
Ringschlüsse in diesen Netzen können die Netzverluste reduziert,
die Strom‐ sowie Spannungsprofile angeglichen und die Aufnahmekapazität
der Netze zum Anschluss von DEA erhöht werden. Diese Topologieänderung
ist augenblicklich und mit vorhandenen Betriebsmitteln umsetzbar.
Eine derart veränderte Netzstruktur führt jedoch, zusätzlich zu durch dezentrale
Energieumwandlungsanlagen induzierten Problematiken, zu weiteren
Herausforderungen in der Betriebsführung und insbesondere im Hinblick
auf die Schutztechnik. Eine zeitnahe Anpassung der Schutzsysteme durch
erweiterte Leittechnik, Neuinstallation von Schutzgeräten usw. ist aufgrund
der Menge an Gerätschaften in den Verteilungsnetzen nicht zu erwarten. Zur
Fehlererkennung und ‐abschaltung werden in Verteilungsnetzen oftmals ungerichtete
Überstromzeit‐ oder Distanzschutzschutzgeräte an den Sammelschienen
der Umspannwerke genutzt. Zur Fehlerortung kommen häufig ungerichtete
Kurzschlussstromanzeiger zum Einsatz. Diese Ansätze werden
durch die Installation einer Vielzahl an DEA in Kombination mit geschlossenen
Ringstrukturen zum Teil massiv gestört oder gar unbrauchbar. Um diesen Herausforderungen zu begegnen, werden in dieser Arbeit speziell
auf geschlossene Ringstrukturen mit hohem Anteil an DEA zugeschnittene
Netzschutzalgorithmen vorgestellt. Diese lassen sich auf dreierlei Arten
unterteilen. Erstens nach ihrer Auswertung der (Symmetrischen) Komponentengrößen
in Mit‐, Gegen‐ und Nullsystemverfahren. Zweitens nach
ihrem Einsatzort in Sammelschienen‐ oder Ringkupplungsrelais. Drittens
nach dem Grad der (negativen) Beeinflussung der Ergebnisse durch Zwischeneinspeisungen.
Die Verfahren für Relais an der Sammelschiene basieren auf einem Stromvergleich
der Komponentenströme der parallelen Abgänge. Konventionelle
Distanzschutzmethoden nutzen eine aus Strom‐ und Spannungssignalen
ermittelte Impedanz zur Fehlerortbestimmung. Daraus folgt eine entsprechende
Staffelung der Schutzgeräte zur (im besten Falle) selektiven Fehlerabschaltung.
Bei den vorgeschlagenen Stromvergleichsverfahren ist eine selektive
Fehlerabschaltung im Wesentlichen durch eine reine Nutzung von
Stromsignalen durchführbar. Eine Spannungsmessung ist nicht unbedingt
notwendig. In Abgrenzung zum Differentialschutz, welcher meist ebenfalls
auf Basis eines Stromvergleichs arbeitet, können die entwickelten Stromvergleichsverfahren
durch ihre Fähigkeit zur Fehlerlokalisierung bis zu einem
gewissen Maße auch Reserveschutzaufgaben bei Fehlern außerhalb des zugewiesenen
Hauptschutzbereichs übernehmen. Ebenso werden sie weitaus
weniger durch Effekte wie Zwischeneinspeisungen oder Lasten zwischen den
Relais beeinträchtigt. Überdies ist die grundsätzliche Funktionsfähigkeit der
vorgeschlagenen Stromvergleichsverfahren auch ohne Kommunikationskanal
zwischen den Relais gegeben. Des Weiteren kann eine automatische Anpassung
der Stromvergleichsverfahren auf dynamische Topologieänderungen
des Netzes ohne Zugriff von außen auf die Relais erfolgen.
Zur Vermeidung einer verminderten Versorgungszuverlässigkeit durch
Ringschlüsse empfiehlt diese Arbeit den Einsatz von Ringkupplungsrelais
zur unmittelbaren Wiederherstellung der offenen Ringstruktur im Falle
von Fehlern auf dem Ring. Für diese Ringkupplungsrelais werden Verfahren
auf Strom‐ und Impedanzbasis vorgestellt, welche Null‐ und Gegensystemgrößen
nutzen. Die Ringkupplungsverfahren arbeiten auf Basis lokaler
Messgrößen am Einbauort und sind nicht auf Kommunikationskanäle zu
weiteren Relais oder anderen Betriebsmitteln angewiesen. Für die impedanzbasierten
Ringkupplungsverfahren werden sowohl die Strom‐ als auch die
Spannungsmesssignale am Relais benötigt. Werden die impedanzbasierten
Ringkupplungsverfahren eingesetzt, so lassen die ermittelten Ergebnisse
im Vergleich zu konventionellen Distanzschutzmethoden deutlich genauer
auf den Fehlerort am Ring schließen. Dadurch kann ein Maß an Selektivität erzielt werden, welches über die bloße Entscheidung, ob ein Fehler im Ring
vorliegt bzw. auf welchem Halbring dieser aufgetreten ist, hinausgeht.
Sowohl für Sammelschienen‐ als auch für Ringkupplungsrelais wurden
spezielle Verfahren auf Gegensystembasis entwickelt, welche eine nahezu
vollständige Berücksichtigung von Zwischeneinspeisungen zulassen. Die
Fehlerortbestimmung bleibt somit vom Zwischeneinspeiseeffekt unbeeinflusst.
Diese Verfahren benötigen eine umfassendere Datengrundlage, um
zur vollen Leistungsfähigkeit zu gelangen.
Allgemein erfahren sämtliche vorgestellte Verfahren, mit Ausnahme
des Mitsystemstromvergleichsverfahrens, keinerlei signifikante Messabweichung
durch auftretende Fehlerwiderstände. Resultierend führen
die vorgeschlagenen Verfahren in geschlossenen Ringnetzen mit hohem
DEA‐Anteil zu deutlich geringeren Messabweichungen im Vergleich zu
konventionellen Distanzschutzverfahren.
Des Weiteren kann in einem Schutzkonzept mit kombinierter Anwendung
sowohl der neuen Verfahren als auch herkömmlicher Distanz‐ oder
Überstromzeitschutzverfahren (beispielsweise für Fälle, in denen die Ringe
infolge von Fehlerbehebungs‐ oder Wartungsmaßnahmen geöffnet sind)
die durchschnittliche Fehlerklärungszeit mittels neu entwickelter, an die
Fähigkeiten der vorgeschlagenen Verfahren für Sammelschienen‐ und Ringkupplungsrelais
angepasster, Schutzstaffelungsstrategien gesenkt werden.
Dies wiederum reduziert die Gefahr von DEA‐Abschaltungen infolge von
länger andauernden Unterspannungszuständen.
Somit kann diese Arbeit einen Beitrag zur Integration von DEA in
bestehende Netze unter Umgehung weitreichender Umbaumaßnahmen
oder Aufrüstungen bei gleichzeitigem Erhalt eines hohen Niveaus an
Versorgungszuverlässigkeit leisten.
APA:
Biller, M. (2021). Schutzalgorithmen für dynamisch vermaschte Ringnetzstrukturen mit dezentraler Einspeisung (Dissertation).
MLA:
Biller, Martin. Schutzalgorithmen für dynamisch vermaschte Ringnetzstrukturen mit dezentraler Einspeisung. Dissertation, Erlangen-Nürnberg: FAU University Press, 2021.
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