Gentzel P (2025)
Publication Language: German
Publication Type: Conference contribution, Conference Contribution
Publication year: 2025
Event location: Berlin
Wie sieht die Welt aus? Wem gehört das Internet? Was passiert in der Ukraine wirklich? Was ist der schnellste Weg zum Ziel, was der kostengünstigste und ressourcenschonendste? Wer gestaltet Räume und Infrastrukturen zu welchem Zweck? Für die Beantwortung dieser Fragen nutzen und produzieren Menschen Karten. Die Vielfalt dieser Karten ist enorm: Einige werden von zivilgesellschaftlichen Akteuren konstruiert, machen ökologische, soziale und ökonomische Ungerechtigkeiten sichtbar, dienen der Umgehung staatlicher Zensur und Propaganda oder sind selbst sozio-technische Akteure in Gestaltungs- und Planungsprozessen; Andere sind feste Bestandteile des alltäglichen Mediengebrauchs werden rekursiv und automatisiert erzeugt, dienen vornehmlich ökonomischen Interessen, und verändern nahezu unscheinbar Weltbilder, Raumvorstellungen, Orts- und Orientierungssinn.
Digitale Karten sind Medien öffentlicher Kommunikation, die Orte und Räume interessen- und wertegeleitet vermessen. Sie sind Ort der Aushandlung von Werten und zugleich Ort ihrer Verwirklichung (CfP DGPuK 2025). Gleichwohl spielen sie in der kommunikationswissenschaftlichen Forschung bislang keine zentrale Rolle, weshalb sich der Forschungsstand anhand von Einzelstudien aus unterschiedlichen Disziplinen bemisst. Ziel des Beitrags ist es, Karten als Gegenstand kommunikationswissenschaftlicher Forschung zu konzipieren. Die Argumentation erfolgt in drei Schritte: Zunächst wird die Vielfalt digitaler Karten skizziert und eine Typologie entwickelt, die sich an der Aushandlung und Verwirklichung von Werten orientiert. Im zweiten Schritt werden Formen öffentlicher Kommunikation und Wertekonstruktion mit und durch Karten exploriert. Abschließend werden Dimensionen für die kommunikationswissenschaftlichen Analyse von Karten bestimmt und eine Heuristik für das Forschungsfeld vorgestellt.
1.) Der Beitrag versteht Karten als Medien, d.h. materielle Artefakte, die selektierte
georeferenzierte Informationen symbolisch repräsentieren, wobei u.a. Macht und Werte eine Rolle spielen. Durch die Expansion des Geowebs (georeferenzierte Daten aus GPS, GIS und kommerziellem Internet) sind sich stetig rekursiv und automatisiert erzeugende, individuell erstell- und editierbare Karten(-apps) entstanden, von denen einige fest in alltägliche Medienrepertoires integriert sind. Daraus ergibt sich ein Spannungsverhältnis zwischen Demokratisierung, Öffnung und Pluralisierung räumlichen Wissens auf der einen Seite, Fragmentierung, Homogenisierung und Verengung auf der anderen. Dies legt, mit Blick auf Wertekonstruktion und -vermittlung, die Unterscheidung in zwei Typen digitaler Karten nahe: Zum einen Google Maps als Element von Überwachungskapitalismus, als Infrastruktur und Plattform. Die Google Map wird durch Nutzer:innenaktivitäten automatisch rekursiv erzeugt, privilegiert kommerzielle und ökonomische Rauminformationen, homogenisiert – so eine häufig formulierte These – Weltbilder, und verändert Orientierungssinn und Raumwahrnehmung. Daneben existiert eine Bandbreite von Karten, die im Rahmen von „crowd mapping“, „collaborative mapping“ oder „counter mapping“ Projekten erstellt werden. Beispiele hierfür sind OpenStreetMap (Start 2004) oder Wikimapia (Start 2006), ebenso wie Karten, die Ungleichheiten der digitalen Ökonomie (Digital Rights, n. d) aufzeigen, alternative Raumnutzung in Großstädten verorten oder politischen Protest organisieren helfen (kollektiv orangotango 2018, S. 73ff.). Zur Verwirklichung von Werten tragen zudem solche Karten bei, die auf die Verbesserung der Lebensbedingung unterprivilegierter Bevölkerungsgruppen und Regionen im globalen Süden, etwa zum participatory slum upgrading (unhabitat n.d.), zielen. Auch die Entwicklung von Metropolen im globalen Norden setzt maßgeblich auf Karten als festen Bestandteilen von Partizipations- und Planungsverfahren.
2.) Ein heterogenes Bild ergibt sich auch mit Blick auf kartenvermittelte Formen öffen-
tlicher Kommunikation und ihren Werten. So wird Google Maps im Allgemeinen ein Kommerzialisierungs- und Kommodifizierungsimpetus attestiert, der Räume entlang geschäftlicher Transaktionen und Konsumakten repräsentiert. Demgegenüber ermöglichen Editierungs- und Kommentierungsfunktionen kreative, dezidiert politische, kritische und journalistische Beiträge. So zu beobachten, wenn das Hackerkollektiv Anonymus die Umgehung der russischen Zensur im Ukrainekrieg mittels Kommentarfunktionen für Restaurants initiiert, die Zerstörung von Landschaften und Städten via Google Earth visualisiert werden oder zivilgesellschaftliche Gruppen über aktuelle militärischer Einflusszonen informieren. Ein weiterer Typus versammelt Karten, die für Protest und Kritik konstruiert werden, deren Ziel „conversations about digital colonialism and the role of technologies in the debates about climate and socio-environmental justice“ (Coding Rights n.d.) sind. Schließlich stehen Karten als Aktanten in digitale Partizipations- und Planungsverfahren oftmals im Zeichen von Partizipation, Inklusion und Gleichberechtigung, wie z.B. bei der Erschließung informeller Siedlungen.
3.) Ausgangspunkt einer systematischen Erforschung von Karten ist die Einsicht, dass
Kartengestaltung, -text und -gebrauch eng miteinander verzahnt, relational und kontextgebunden sind. Entsprechend systematisiert der Beitrag den Forschungsgegenstand Karten anhand einer praxistheoretisch inspirierten Heuristik, die zwischen Karten-als-Praktiken, Karten-bezogene-Praktiken und Karten-in-Praktikenunterscheidet
Literatur
Coding Rights (n.d.). Tech Cartographies. Your cloud is in territories. https://www.cartografiasdainternet.org/en. Zugriff: 23.05.2024.
Kollektiv orangotango (Edt.) (2018). This Is Not an Atlas. A Global Collection of Counter-Cartographies. transcript.
unhabitat (n.d.). The participatory slum upgrading programme. https://unhabitat.org/programme/the-participatory-slum-upgrading-programme-psup (Zugriff: 17.06.2024)
APA:
Gentzel, P. (2025). Konsum – Kritik – Protest. Karten und Werte. In Tagungsband "Öffentlichkeit(en) und ihre Werte", 70. Jahrestagung der DGPuK. Berlin.
MLA:
Gentzel, Peter. "Konsum – Kritik – Protest. Karten und Werte." Tagungsband "Öffentlichkeit(en) und ihre Werte", 70. Jahrestagung der DGPuK, Berlin 2025.
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