"Auch du könntest wohl aus Überfluss und Weisheit zu einem Esel werden" oder: Warum Jasagen eine Tugend sein kann.

Kiesel D (2017)


Publication Language: German

Publication Type: Journal article, Original article

Publication year: 2017

Journal

Book Volume: 3

Pages Range: 29-35

Abstract

Nietzsche kritisiert – so seine Interpreten – in der Figur des Esels das unreflektierte I-A-Sagen zu herkömmlichen Werten und scheinbaren Gewissheiten. Meines Erachtens repräsentiert der Esel in Za IV darüber hinaus denjenigen, der den amor fati, d.h. das „heilige Jasagen“ zu allen Dingen verwirklicht hat. Diese Form des Jasagens wird von  Nietzsche idealisiert und gilt ihm als höchste Entwicklungsstufe des Geistes. Da im amor fati aber auch die konventionellen moralischen bzw. religiösen Werte geliebt werden, die Nietzsche (bzw. Zarathustra) zunächst radikal verneint hat, scheint sich das Jasagen des Weisen dem I-A-Sagen des Esels anzugleichen. Im Eselsfest  reflektiert Nietzsche diese Assimilation kritisch und versteht sie als „psychologisches Problem“: Wie ist es möglich, dieselben Werte zu verneinen und zu bejahen, ohne mit sich selbst im Widerspruch zu stehen und die Persönlichkeit zu spalten?

Intention dieses Vortrags ist es zu zeigen, dass die Vereinbarkeit eines klaren Bekenntnisses zu bestimmten Werten mit einer Haltung radikaler Akzeptanz der Existenz differierender Werte nicht nur möglich, sondern als fruchtbare Konsequenz einer perspektivistischen Philosophie auch wünschenswert ist. Nietzsches Perspektivismus behauptet, dass unsere Interpretationen der Welt ebenso wie unsere Werte und Ziele weniger in den tatsächlichen Verfasstheiten der natürlichen oder  moralischen Welt gründen, sondern vielmehr in den individuellen psychologischen Gegebenheiten der Person, die diese Überzeugungen vertritt. Dieser deskriptive Perspektivismus Nietzsches sollte meines Erachtens normativ ausformuliert werden: Die Abhängigkeit der (Wert-) Urteile von der Person ist kein epistemisches Manko, das uns an irrtumsfreier Welterkenntnis hindert, sondern fördert den Perspektivenreichtum und die Vielfalt unserer Weltdeutungen. Meine individuelle Perspektive ist als Ausdruck meines spezifischen Charakters, meiner ureigenen Erfahrungen und Sozialisation wünschenswert. Es ist gut, dass X andere Überzeugungen vertritt als Y, weil X eben X und nicht Y ist. Ein so verstandener Perspektivismus rechtfertigt nicht nur die Einnahme einer eigenen Perspektive, sondern auch die Perspektivenvielfalt Anderer und betrachtet diese als wertvoll. Eine individuell abgrenzbare Position lässt sich so mit dem amor fati vereinbaren.

Die Einnahme einer perspektivistischen Haltung kann im Rahmen zeitgenössischer Tugendethiken als Tugend verstanden werden.

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How to cite

APA:

Kiesel, D. (2017). "Auch du könntest wohl aus Überfluss und Weisheit zu einem Esel werden" oder: Warum Jasagen eine Tugend sein kann. Narthex, 3, 29-35.

MLA:

Kiesel, Dagmar. ""Auch du könntest wohl aus Überfluss und Weisheit zu einem Esel werden" oder: Warum Jasagen eine Tugend sein kann." Narthex 3 (2017): 29-35.

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