Zum Problem des unzuverlässigen Erzählers im Mittelalter

Glauch S (2019)


Publication Language: German

Publication Type: Book chapter / Article in edited volumes

Publication year: 2019

Publisher: BIS-Verlag

Edited Volumes: Historische Narratologie

Series: Beiträge zur mediävistischen Erzählforschung. Themenheft

City/Town: Oldenburg

Book Volume: 3

Pages Range: 79-124

URI: http://ojs.uni-oldenburg.de/ojs-3.1.0/index.php/bme/article/view/31

DOI: 10.25619/BmE2019231

Abstract

Der Beitrag fragt nach der Anwendbarkeit des narratologischen Konzepts des unzuverlässigen Erzählers für die Literatur des Mittelalters. Ein erster Abschnitt erörtert zunächst das Spannungsfeld, in dem jegliche historische Erzählforschung steht, nämlich zwischen Erkenntnis­interessen, die universalistisch-theoretisch sind und solchen, die sich auf die Spezifik von Erzählphänomenen richten. Die von ihnen jeweils geleiteten Forschungspraxen könnten, wie hier vorgeschlagen wird, auch als Narratologie und Narrativik unterschieden werden. Dieselbe Spannung bedingt eine weitere in Konzeption und Gebrauch der Begriffe, nämlich zwischen ausweitender Verallgemeinerung – z. B. durch Absehen von den Implikationen der kulturellen Funktion eines textuellen Phänomens – und verengender Schärfung. Diese Spannung ist insbesondere bei Phänomenen virulent, die nicht ohne Blick auf ihre Einbettung in kulturelle Praktiken und Verständnishorizonte beschrieben werden können.
›Unzuverlässiger Erzähler‹ ist ein Name für ein solches Phänomen, da es sich bei ihm um den Effekt einer Lektürestrategie handelt. Analytisch notwendig ist also der Rekurs auf die Kommunikation von Text und (tatsächlichem) Rezipienten und auf die Konstruktionsleistung im Rezeptionsvorgang, die ein Auseinandertreten von Autor und inszenierter (d. h. fiktionaler) unzuverlässiger Erzählerfigur erst bewirkt. Dabei erscheint im Übrigen die Veranlassung der Leser und die Veranlassung der Literaturwissenschaft zur Konstruktion einer solchen Spaltung ganz analog: jeweils zeigt sich ein Bedürfnis, eine Verunsicherung einzuhegen und ein Autorbild von Inkriminierung freizuhalten. Mit Blick auf die kulturelle Leistung des Konzepts empfiehlt es sich, es mit ironischen Erzählhaltungen und mit Fällen, in denen keine Entscheidung zwischen Zuverlässigkeit oder Unzuverlässigkeit des Erzählers möglich ist, nicht gleichzusetzen.
Der dritte Teil des Beitrags sucht nach mittelalterlichen Vertretern des umrissenen Phänomens, zunächst in der kritischen Revue einiger mehr oder weniger prominenter exemplarischer Fälle für Erzähler des Mittelalters, die die Forschung als unzuverlässig bezeichnet hat: Wolfram von Eschenbach als Erzähler des ›Parzival‹, den Erzähler des ›Partonopeus de Blois‹, den/die Erzähler des ›Roman de la Rose‹ und Geoffrey Chaucer. Diese Revue läßt erkennen, daß die mediävistische Forschung von Unzuverlässigkeit meist spricht, wo möglicherweise eher Ambiguität, Uneindeutigkeit, Ironie und humoristische Distanz vorliegen. Die meisten dieser Beispielfälle sind heterodiegetische Erzähler. Es scheint jedoch aussichtslos, unzuverlässige Erzähler im Mittelalter unter heterodiegetischen Erzählern zu suchen, was insbesondere an der Zielrichtung der von ihnen eingesetzten Ironie liegt, die auf ein Einverständnis des Erzählers mit den Rezipienten zielt und nicht auf die Ironisierung oder Diskreditierung des Erzählers durch den Autor. Dagegen wird das Ich-Erzählen, also das autodiegetische Erzählen im Mittelalter in einigen seiner Spielarten für etwas benutzt, das man mit Unzuverlässigkeit in Beziehung setzen kann, wenn auch hier eine Abgrenzung zu Ironie und Ambiguität meist schwerfällt. Ob die Darstellung von Erkenntnisgewinn oder Gesinnungswandel, für die solche formal autobiographischen Erzählungen oft genutzt werden, – man könnte auch sagen, die Entwicklung vom unzuverlässigen zum zuverlässigen Erzähler des eigenen Lebens – unter die Rubrik gestellt werden kann, hängt auch von der diskutierbaren Einschätzung der Homogenität und Fiktionalität der Erzählerfigur ab. So stellt sich letztlich auch die Frage, ob die Suche nach dem unzuverlässigen Erzähler im Mittelalter eigentlich nichts anderes ist als die Suche nach dem personalisierten fiktionalen Erzähler, womit die Kategorie in systematischer Hinsicht überflüssig wäre.

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How to cite

APA:

Glauch, S. (2019). Zum Problem des unzuverlässigen Erzählers im Mittelalter. In Eva von Contzen (Hrg.), Historische Narratologie. (S. 79-124). Oldenburg: BIS-Verlag.

MLA:

Glauch, Sonja. "Zum Problem des unzuverlässigen Erzählers im Mittelalter." Historische Narratologie. Hrg. Eva von Contzen, Oldenburg: BIS-Verlag, 2019. 79-124.

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